Barrichello: Fünf Handys warten auf Anrufe

Rubens Barrichello weiss nicht, ob er heute schon

sein letztes Rennen fährt

Rubens Barrichello hat gestern in seiner Heimatstadt Sao Paulo das vielleicht letzte Qualifying seiner Grand-Prix-Karriere bestritten - und wie: Teamkollege Pastor Maldonado hängte der Routinier um gut eine halbe Sekunde ab, was im unterlegenen Williams den zwölften Startplatz bedeutete - vor Toro Rosso, vor Sauber, vor einem Renault.

"Die Runde war grossartig", schwärmt er. "Ich bin mir sicher, dass das für die Verhältnisse unseres Autos eine Pole-Position-Runde war. Mehr wäre nicht gegangen. Der erste Sektor war zwar in der dritten Runde besser, aber da habe ich ausprobiert, ob der erste Sektor schneller geht, wenn ich mehr KERS einsetze. Ich hatte auf der schnellen Runde alles gegeben, also musste ich etwas anderes versuchen. Aber die Reifen waren da schon hinüber."

Abschiedsrennen, ohne es zu wissen?

Ungeachtet dieser Galavorstellung (übrigens mit Senna-Helmdesign und vor den Augen seiner kompletten Familie) weiss Barrichello noch immer nicht, ob er heute zum letzten Mal an einem Formel-1-Rennen teilnehmen wird oder nicht. Es wäre traurig, sollte es sein Abschied werden, ohne dass er es weiss, auch wenn ihn das angeblich "überhaupt nicht" stören würde: "Ich bin ein Mann der Öffentlichkeit und werde mich von den Menschen sowieso nie ganz verabschieden. Ich denke nicht so, dass ich eine Entscheidung treffen muss, nur weil die Zukunft ungewiss ist", sagt er. "Im Leben sollte man sich auf das Positive konzentrieren und dafür arbeiten. Meinem Sohn sage ich immer: 'Wenn du für die Prüfung nicht lernst, kann dir kein Gott der Welt eine Eins besorgen!' Das Gleiche gilt für unser Leben. Ich habe meine Arbeit sehr gut gemacht und heute bewiesen, dass in mir sehr viel Speed steckt, auch viel Motivation." Sein Alter sei jedenfalls kein Handicap, findet der 39-Jährige: "Michael (42) und de la Rosa (40) sind viel älter als ich. Dagegen bin ich ja ein Teenager!" Andererseits ist Valtteri Bottas, der bei den Young-Driver-Tests in Abu Dhabi einen starken Eindruck hinterlassen hat, gerade mal 22 Jahre jung. Aber Alter muss nicht zwingend ein Nachteil sein, denn "Rubinho" kann seinem Arbeitgeber den Erfahrungsschatz des längstdienenden Fahrers der Formel-1-Geschichte anbieten.

Barrichello plädiert für Erfahrung

"Mit all den Änderungen für nächstes Jahr - dem neuen Motor, den neuen Ingenieuren - wäre es sehr clever vom Team, an den derzeitigen Fahrern festzuhalten", argumentiert Barrichello, stellt aber klar: "Ich erwarte keinen Gefallen. Wenn man will, dass ich bleibe, werde ich bleiben. Es ist nicht so, dass ich alles unterschreiben würde. Ich brauche ein gutes Paket, die richtige Kombination. Ich glaube, die hat Williams für nächstes Jahr. Ich kann ihnen beim Wachsen helfen." Das Team setzt er "nicht unter Druck, sondern ich versuche ihnen zu zeigen, dass das der richtige Weg ist". Doch vorerst ist Warten angesagt, bis sich ein interessiertes Team meldet. Sorgen, dass er einen wichtigen Anruf verpassen könnte, macht sich Barrichello jedenfalls nicht, denn: "Ich habe momentan fünf Handys in meiner Tasche! Ich spiele Golf damit, gehe damit ins Fitnesscenter. Wenn mich jemand erreichen will, wird er mich erreichen."

Renault hat kein Interesse

Viele Möglichkeiten hat der elffache Grand-Prix-Sieger nicht mehr: Bei Renault-Teamchef Eric Boullier ist er abgeblitzt, Force India hat sich für Nico Hülkenberg und Paul di Resta entschieden, Toro Rosso setzt nur auf Red-Bull-Junioren. Bleiben neben Williams noch die drei neuen Teams. Lotus würde er sich vielleicht antun, HRT und Marussia eher nicht. Die beste Option für seine Zukunft wäre also nach aktuellem Stand der Dinge ein Verbleib bei Williams. Grundsätzlich ausschliessen will er Lotus, HRT oder Marussia nicht: "Ich würde mit jedem reden", gibt Barrichello zu, "aber ich brauche die Garantie, dass ich nächstes Jahr ein konkurrenzfähiges Auto bekomme. Dieses Jahr hat zwar vom Team her Spass gemacht, aber das Fahren mit so einem Auto ist keine Freude, um ehrlich zu sein. Es ist mir schon wichtig, weiterhin Formel 1 zu fahren, aber ich will auch konkurrenzfähig sein." Vorerst gilt es, einen möglicherweise langen und ungewissen Winter zu überstehen. Das kennt er schon von 2008/09, als er nach dem Honda-Ausstieg in der Luft hing - und wider Erwarten dank Ross Brawn ein Siegerauto hingestellt bekam. Diese Erfahrung "hilft mir jetzt, auch wenn ich nicht glaube, dass es diesmal wieder so lange dauern wird. Ich bin jetzt ruhiger." Weil er weiß, dass jede noch so hoffnungslose Situation auch eine Chance sein kann.

Massa rät zum Rücktritt

Aber Barrichellos Lage ist objektiv betrachtet aussichtsloser als vor drei Jahren, denn damals hätte er neben Brawn möglicherweise andere Alternativen gehabt. Die sind jetzt nicht mehr vorhanden, weswegen er voll auf Williams angewiesen ist. Daher hat er sich nun sogar dazu herabgelassen, Sponsoren zu suchen, was sein Landsmann Felipe Massa kritisch sieht. Barrichello: "Ich verstehe, dass Felipe mich beschützen will, aber irgendwie fühlt es sich gar nicht so schlecht an. Einige denken, es sei peinlich für mich, dass ich Sponsoren suchen muss. Wenn das notwendig ist, damit ich ein konkurrenzfähiges Auto bekomme, dann habe ich aber kein Problem damit", betont er. "Es läuft auch ganz gut. Ich rede mit einigen Leuten, die sehr interessiert sind, und ich hoffe, dass wir etwas zusammenstellen können. Ich weiss aber nicht, ob es davon abhängig ist. Ich habe dem Team nur gesagt, dass ich auf die Suche gehe - für den Fall, dass es so weit kommt." Die beste Antwort wäre ohnehin ein Topergebnis beim Heimrennen, auch wenn ein Wunder passieren müsste, damit Barrichello im 19. Anlauf endlich in Interlagos gewinnt. Obwohl er ein Trockensetup gewählt hat, wünscht er sich für den Grand Prix Schlechtwetter: "Ich hoffe, dass es regnet, denn ich habe all meine Reifen verbraucht. Unser Auto ist im Regen nicht grossartig, aber ich liebe Regen. Das würde mir schon helfen..."

Barrichello, Schumacher und ein Glas Wein...


Gute Freunde waren Rubens Barrichello und Michael Schumacher nie, doch spätestens seit Barrichellos verbitterten Interviews über die gemeinsame Ferrari-Zeit und einigen beinharten Duellen auf der Strecke ist aus einer früher einmal normalen Beziehung eine fast feindselige Rivalität geworden. Das will Barrichello inzwischen auch gar nicht mehr schönreden: Er sei "nicht mehr" mit dem siebenfachen Weltmeister befreundet, gibt er in einem 'BBC'-Interview mit seinem ehemaligen Teamchef Eddie Jordan zu. "Mit einem Glas Wein in der Hand kann er sehr ehrlich sein. Ich habe die Zeiten, die wir gemeinsam hatten, genossen, aber so eine Beziehung haben wir nicht mehr", sagt der heutige Williams-Pilot. Ein Tiefpunkt war der Grand Prix von Ungarn 2010, als Schumacher einen Überholversuch von Barrichello vereiteln wollte, indem er ihn fast in die Mauer drückte. "Als ich sah, dass es um einen Punkt geht - und ein Punkt ist für uns fast wie ein Sieg -, habe ich mich gefragt, wer der Kerl ist, gegen den ich kämpfe. Als ich sah, dass es Michael ist, musste ich lachen, denn ich habe mir gesagt: 'Da setzt du jetzt alles dran'", erinnert sich der Brasilianer.

Getrübt wurde das persönliche Verhältnis aber schon viel früher, als er bei Ferrari mehr oder weniger offen zur Nummer zwei abgestempelt wurde und in Österreich 2002 in Führung liegend Platz machen musste - Jean Todts Funkspruch "Let Michael pass for the championship" ist ein Stück Formel-1-Geschichte und immer noch ein Stich in Barrichellos Herz. Daher war es Ende 2005 an der Zeit, aus Schumachers Schatten zu treten. "Ich habe mich entschieden, Ferrari ein Jahr vor dem Ende meines Vertrags zu verlassen. Ich hielt es einfach nicht länger aus", erinnert sich der 39-Jährige. "Als sie mir sagten, dass sie entschieden haben, dass ich keine Chance bekomme und sich alles nur um Michael, Michael, Michael dreht, habe ich gesagt: 'Okay, aber ich ertrage das nicht mehr. Ich will gewinnen, also probiere ich lieber etwas anderes aus.'"
Derzeit fährt er für Williams, heute möglicherweise den letzten Grand Prix seiner Karriere. "Ich wurde in Interlagos geboren", gibt er vor seinem Heim-Grand-Prix zu Protokoll. "Mein Herz ist hier und ich bin meine ganze Karriere lang hier gefahren. Dieser Ort hat einfach gute Vibrations. Wenn ich morgens durch das Tor komme, winken mir die Leute zu und rufen: 'Komm schon, du packst es!' Ich fühle mich hier einfach wohl."

Barrichello will niemand nacheifern


Mit seinen 39 Jahren ist Rubens Barrichello der zweitälteste Fahrer im Feld. Doch auch wenn es für ihn nach dem Grossen Preis von Brasilien und rund 324 Rennen danach aussieht, als würde er kommendes Jahr ohne Cockpit dastehen, bemüht sich der Rennfahrer aus Sao Paulo nach Kräften, auch kommendes Jahr in der Formel 1 an den Start zu gehen. Er will unbedingt auch noch das 20. Jahr in der Formel 1 verbringen. Kann sich die Konkurrenz vorstellen, auch derart lange in der "Königsklasse des Motorsports" zu fahren? "Ich bin 31 und erschreckender Weise ist dies bereits meine zwölfte Saison", so Button. "Im Moment nein, ich kann mir definitiv nicht vorstellen, weitere acht Jahre dabei zu sein. Aber nach vier oder fünf Jahren in der Formel 1 hatte ich auch nicht erwartet, dass die Zeit hier so verfliegt. Wie wir alle wissen, sitzt man nicht eine Sekunde still, wenn man die ganze Zeit reist", so der McLaren-Mercedes-Pilot weiter. "Die Jahre ziehen aus diesem Grund schnell vorüber, und solange der Hunger noch vorhanden ist - was bei Rubens offensichtlich der Fall ist -, ist es grossartig, dass er immer noch Rennen fahren möchte. Ich hoffe wirklich, dass er für das kommende Jahr ein Cockpit bekommt. Ich hoffe, dass er kommendes Jahr Rennen fahren wird, denn ansonsten werden wir am Sonntagabend eine wirklich große Party verpasst haben. Ich denke, dass dies für viele Fahrer ebenso ist. Man muss sicherstellen, dass man bereit ist zu gehen, denn wenn man zu früh geht und man versucht zurück zu kehren, so denke ich, dass das für einige von uns nicht funktionieren wird. Es ist eine schwierige Aufgabe wenn man entscheidet zurückzutreten - wenn es denn deine Entscheidung ist. Das ist nicht etwas, das du einfach so hinnimmst oder leicht machst."

Auch Sebastian Vettel würde es als "echte Schande" empfinden, sollte Rubens Barrichello kommendes Jahr kein Cockpit erhalten: "Denn er gehört hier einfach hin. Er ist schon so lange dabei. Es ist ziemlich verrückt, sich vorzustellen, dass man selbst so lange dabei ist. Schlussendlich denke ich, dass es nicht wirklich zählt, wie lange man in der Formel 1 ist", so der Weltmeister weiter. "Das wirklich Inspirierende bei Rubens ist die Tatsache, dass ich ihn wirklich mag. Und das wirklich Inspirierende an ihm ist, dass er liebt, was er macht. Ich habe den Eindruck, dass er glücklich ist, wenn er morgens aufwacht und an die Strecke geht. Er scheint nicht über sein Alter nachzudenken. Manchmal gibt es Leute diesen Alters, die traurig sind, dass die Zeit vergeht. Aber Rubens hat dieses Problem mit seinem Alter nicht. Für ihn ist es eine Zahl, aber diese bedeutet nichts. Er fühlt sich immer noch jung und frisch, und er ist immer noch wirklich lustig und definitiv ein Charakter. Es wäre schade, ihn zu verlieren, und für uns alle ist es in gewisser Weise schwierig, sich vorzustellen, dass wir so lange dabei sein werden."

Teamkollege Mark Webber würdigt den Rennfahrer aus Sao Paulo ebenfalls: "Rubens war mit Sicherheit für unseren Sport ein beeindruckender Mensch. Er hat unglaublich schwierige Zeiten durchgemacht, besonders 1994, und er hatte auch ein paar grossartige Momente. Ich sehe ihn immer noch auf dem Podium in Hockenheim weinen, nachdem er von hinten im Feld eine unglaubliche Fahrt gezeigt hat. So sehen wir Rubens gern, und er ist sowieso so. In diesem Jahr hatte er natürlich kein sehr konkurrenzfähiges Auto. Aber es wäre grossartig, ihn kommendes Jahr erneut dabei zu haben. Vor ein paar Monaten war ich in der Turnhalle und traf auf Frank Bruno, der ein Boxer war. Er schaffte es, einige Male gegen Mike Tyson zu kämpfen, und er hat einige Dinge durchgemacht. Er war zu mir die letzten Male sehr ehrlich und sagte mir, dass es der grösste Kampf sein wird, den ich in meiner Karriere habe, wenn man einfach versucht, aufzuhören. Und so ist das für uns alle. Das Positive ist - und so sind im Wettbewerb stehende einfach - dass natürlich etwas Arroganz involviert ist, dass wir weiter am Wettbewerb teilnehmen wollen. Aber der Hunger, der Wunsch, alles ist noch bei Rubens vorhanden. Ich selbst erachte es als unwahrscheinlich, dass ich noch da sein werde. Wenn ich noch weitere neun Jahre fahren würde, so denke ich, dass ich mit 45 nicht mehr so sexy aussehe..."

"Wie eine Pole-Position-Runde"


Ein Klopfer auf den gelben Senna-Helm, ein Küsschen für Ehefrau Silvana, ein Klaps auf den Kopf seines Sohnes: Nach dem Heim-Qualifying in Sao Paulo sah Rubens Barrichello zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich aus. Dabei hat es nicht wie 2003, 2004 und 2009 zur Pole-Position gereicht, sondern nur zum zwölften Platz. Aber: "Mit diesem Auto war das fast wie eine Pole-Position-Runde", jubelt der 39-Jährige - übrigens genau ein Jahr, nachdem Nico Hülkenberg zum bisher letzten Mal eine Pole-Position für Williams geholt hat. "Es ist ein grossartiges Gefühl. Es war mit diesem Auto ein schwieriges Jahr. Wenn du nach Hause kommst, ist das Leben ein Kreislauf, und du musst deine Chance packen, wenn sie sich bietet", strahlt "Rubinho".
Dass er seinen Heim-Grand-Prix im 19. Anlauf zum ersten Mal gewinnen wird, ist unwahrscheinlich, aber für ein Topergebnis wäre ein Wetterumschwung hilfreich: "Am Sonntag haben wir noch einmal 71 Runden. Ich hoffe, dass es ein bisschen regnet. Ich bin mir sicher, den Fans würde es nichts ausmachen, für mich mit dem Regenschirm zu kommen", lächelt Barrichello. Dass er seinem Teamkollegen Pastor Maldonado (18.) eine Packung von einer halben Sekunde gegeben hat, kommt übrigens genau zum richtigen Zeitpunkt, denn der Routinier hat noch immer keinen Vertrag für kommende Saison. Mit der gestrigen Leistung hat er jedoch bewiesen, dass er hungrig ist, auch wenn sein Hauptkonkurrent Adrian Sutil (8.) ebenfalls stark abgeschnitten hat.
27.11.2011