Zwischengas-Streit: Quo vadis, Formel 1?

Der Zwischengas-Streit sorgt an diesem Wochenende für mehr Schlagzeilen als der neue "Silverstone-Wing" oder das Geschehen auf der Rennstrecke. Dafür verantwortlich sind drei in den vergangenen Wochen herausgegebene Technische Direktiven (wohlgemerkt: keine Regeländerungen) der FIA, mit denen das Reglement in puncto Zwischengas-Motorenmappings präzisiert wurde.

Hintergrund ist das Konzept des angeströmten Diffusors, das in dieser Saison auf technischer Ebene zu einem der bestimmenden Themen geworden ist. Dabei werden zur Erhöhung des aerodynamischen Anpressdrucks Auspuffgase auf das hintere Ende des Unterbodens (Diffusor) geströmt - allerdings nicht nur, wenn der Fahrer auf dem Gaspedal steht, sondern auch bei geschlossener Gaspedalstellung. Das verhindert einen plötzlichen Strömungsabriss (und somit eine schlagartige Veränderung des Fahrverhaltens), wenn der Pilot vom Gas geht.

Was ist Zwischengas?

Zu diesem Zweck wurden von den Teams und Motorenherstellern spezielle Motoreneinstellungen (Mappings) entwickelt, die eine möglichst ununterbrochene und gleichmäßige Strömung von Auspuffgasen sicherstellen - umgangssprachlich als Zwischengas bezeichnet. Pro Runde kann das bis zu einer halben Sekunde bringen. Experten vermuten dahinter auch das Erfolgsgeheimnis von Red Bull im Qualifying, weil Sebastian Vettel und Mark Webber auf eine schnelle Runde angeblich extremere Mappings fahren konnten als auf die komplette Renndistanz. Doch ab Valencia wurde den Teams verboten, die Mappings zwischen Qualifying und Rennen zu verändern, um extremen Qualifying-Mappings nur für eine Runde (was zu mehr Benzinverbrauch und höherer Temperatur führt) zu unterbinden. Für Silverstone wurde die Technische Direktive 25 (TD25) auf den Weg gebracht, die Zwischengas-Mappings generell verbietet. Allerdings wurde an den Details noch bis kurz vor Beginn des Qualifyings herumgefeilt, nachdem es am Freitag zu einer (öffentlichen) Meinungsverschiedenheit zwischen Red Bull und McLaren gekommen war.

TD25 besagt im Wesentlichen, dass die Drosselklappen im Schleppbetrieb des Motors (also wenn der Fahrer nicht mehr auf dem Gaspedal steht) maximal zu zehn Prozent geöffnet sein dürfen. Mercedes bat allerdings um ein Zugeständnis für das "Hot-Blowing"-Verfahren, damit auch im Schleppbetrieb weiterhin Benzin in die Brennkammer gepumpt und eine Nachzündung von zumindest vier Zylindern stattfinden kann. Dies sei aus technischen Gründen notwendig - zur Kontrolle der Auswirkung der Motorbremse auf das Fahrverhalten und auch wegen der Zuverlässigkeit. Renault wiederum bestand auf 50-prozentiger Öffnung der Drosselklappen im Schleppbetrieb, um kalte Luft durch die Auslassventile pumpen zu dürfen und eine Überhitzung zu vermeiden. Die FIA gestand am Freitag zunächst beiden Herstellern Ausnahmeregelungen zu (TD26). "Selbst wenn jemandem ein Vorteil gegeben wird, liegt es in der Natur der Formel 1, dass derjenige denkt: 'Der andere profitiert noch mehr davon!'", erklärt Ross Brawn. "Es gibt eine Art natürliche Paranoia in der Formel 1, in der jeder denkt, dass die anderen besser dran sind."

Das führte ab Freitagnachmittag zu einer Eskalation des Themas, sodass sich die FIA dazu gezwungen sah, die Ausnahmeregelung für Renault (TD26) zu widerrufen. Jene für Mercedes (in TD25 definiert) blieb aber bestehen. Getroffen wurde die Entscheidung auf Grundlage der Mappings von 2009, als es noch keine angeströmten Diffusoren gab. Wer damals schon auch im Schleppbetrieb die Drosselklappen geöffnet oder einzelne Zylinder nachgezunden hat, der kann nun glaubwürdig argumentieren, solche Maßnahmen seien auch zwei Jahre später noch notwendig.

Doch keine Extrawürste für Renault

Doch im Chaos der ständigen Anpassungen blickt selbst in der Boxengasse kaum noch jemand durch. Rob White versucht aufzuklären: "Wir fahren dieses Wochenende nach den Bestimmungen von TD22 und TD25. Aus TD25 ging das Zugeständnis hervor, dass Nachzünden während des Schleppbetriebs entsprechend Benzinunterbrechungs-Modus vier erlaubt bleiben würde", erklärt der Renault-Motorenchef und spricht die jüngste Änderung an: "Die Informationen, die dieses Wochenende verbreitet wurden, werden jetzt aber nicht mehr berücksichtigt."

Also keine Ausnahmeregelung für Renault. Ein Insider erklärt: "Es ist schwierig, die Ziele der Mappings auseinanderzuhalten. Gut möglich, dass jemand zum Beispiel die Drosselklappen öffnen muss, um kalte Luft durch den Motor zu pumpen und ihn so zu kühlen. Nur: Das bedeutet auch einen aerodynamischen Vorteil. Zu unterscheiden, welcher der beiden Faktoren ausschlaggebend für die Argumentation eines Motorenherstellers ist, ist extrem schwierig." Im Grunde geht es also darum: Glaubt man Renault, dass geöffnete Drosselklappen kein Bonus, sondern notwendig sind?

"Wie alle anderen jonglieren auch wir mit allen verfügbaren Kontrollparametern, um den besten Kompromiss zwischen Performance und Zuverlässigkeit zu erzielen", erläutert White. "Was die Auslassventile angeht, ist das Problem, dass sich die Ventilköpfe lösen, wenn sie für zu lange Zeit zu heiss sind. Also kontrolliert man Gasstellung, Zündung und Benzineinspritzung, um das Temperaturprofil für die Auslassventile richtig zu managen. Dafür haben wir uns mit allen Teams bestimmte Betriebsprozeduren angeeignet. Die Diskussion dreht sich darum, wo wir jetzt im Vergleich zu vor ein paar Rennen stehen und wo wir in ein paar Rennen stehen werden. All diese Dinge sind nur Setup-Parameter. Die Art und Weise, wie das gehandhabt wird, ist für alle unangenehm", fügt er an. In diesem Punkt sind sich inzwischen alle einig: "Es ist nicht gut, die Regeln während der Saison zu ändern", findet McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh. "Wenn du das tust, bestrafst du damit möglicherweise jenes Team, das am härtesten gearbeitet hat, um sich auf diese Regel einzustellen."

Die Paranoia der Formel 1

Der Witz an der Sache: Benachteiligt fühlen sich sowohl die Renault- wie auch die Mercedes-Teams, die laut McLaren-Aussage "30 bis 40 Punkte" aerodynamischen Anpressdruck verloren haben. "Es ist unmöglich, die Sache zu regeln, ohne dabei einen Motorenhersteller gegenüber einem anderen zu bevorzugen", glaubt Red-Bull-Teamchef Christian Horner. "Wo wir im Moment stehen, fühlen wir, dass unser Motorenhersteller signifikant im Nachteil ist. Das ist nicht tragbar. Wir versuchen aber eine Lösung zu finden, um das alles hinter uns zu lassen. Wir haben versucht, eine Lösung zu finden. Es war ein sehr konstruktives Meeting", spricht er die kurzfristig einberufene Sitzung der Technischen Arbeitsgruppe am Samstag an. "Red Bull hat das Zugeständnis angeboten, bei diesem Rennen unter der aktuellen Technischen Direktive zu fahren - aber auf der Basis, das diese Lösung nur für dieses Wochenende gilt und für den Rest der Saison noch an diesem Wochenende Klarheit geschaffen wird. Die Mehrheit ist sich einig. Hoffentlich können wir das in den nächsten 24 Stunden finalisieren."

Bei der Sitzung der Technischen Arbeitsgruppe wurde aufgrund der chaotischen Entwicklungen der vergangenen Tage kurzerhand entschieden, das Verbot von Zwischengas-Motorenmappings wieder aufzuheben und zum Regelstand von Valencia zurückzukehren. Heute Morgen soll es ein weiteres Zusammentreffen aller Teams geben, um diesen Beschluss abzusegnen. Einige Teams hatten nämlich nicht sofort zugestimmt, sondern sich mehr Bedenkzeit erbeten - vor allem jene, die nicht mit Mercedes- oder Renault-Motoren fahren. "Das Einfachste wäre, einfach an den Punkt vor zwei Wochen zurückzugehen", findet Horner. "Wir haben versucht, eine Lösung zu finden, weil es in niemandes Interesse liegt, wenn es keine Klarheit gibt. Charlie (Whiting, Technischer Delegierter der FIA) hat einen Kompromiss angeboten. Red Bull hat für dieses Wochenende das Zugeständnis gemacht, dass wir so fahren, wie wir derzeit sind. Wir brauchen aber die Zustimmung aller Teams, um die Sache hinter uns lassen zu können, wovon wir hoffentlich nicht weit entfernt sind."

Hoffen auf eine Einigung

"Heute Morgen sah es so aus, als wäre das wahrscheinlich", so Whitmarsh über eine mögliche Aufhebung des Zwischengas-Verbots, wie sie gestern diskutiert wurde. Bei Williams "weiß man noch nicht recht. Zum Glück hatten wir endlich dieses Meeting, bei dem klar wurde, dass Williams, Ferrari und Sauber nicht genau wussten, wo das Problem von Mercedes und Renault liegt. Auch wenn die betroffenen Teams viel darüber diskutiert hatten, wo ihre Nachteile liegen, wussten wir unterm Strich nichts davon", schildert Technikchef Sam Michael. Der Australier kann sich durchaus vorstellen, dass Williams der Aufhebung des Zwischengas-Verbots im Interesse des Sports zustimmen wird, "aber ich muss erst zu Cosworth gehen und unsere Motorenjungs fragen, wie sie das sehen". Und was passiert, wenn ein Team nicht zustimmen sollte? "Dann bleibt es wohl beim aktuellen Stand Silverstone", vermutet Ross Brawn, "denn den hat die FIA ursprünglich abgesegnet und für gut befunden." Aber eine Fortsetzung der allseitigen Paranoia wäre wohl nicht im Interesse des Sports.

Ebenso wenig wie ein Szenario, in dem wieder einmal die Sportgerichte bemüht werden, um die Angelegenheit zu klären: "Es kann morgen gelöst werden", so der Mercedes-Teamchef nach dem Qualifying, "und ich hoffe das auch. Es ist so eine komplexe Angelegenheit, dass die nächsten Instanzen zur Lösung sehr schwierig wären, denn Proteste und Berufungen will eigentlich niemand. Es ist nicht einfach, ein derart komplexes und herausforderndes Thema auf diesem Weg zu klären. Daher hoffe ich, dass die Teams vernünftig sind und sich auf eine Lösung einigen. Fairerweise muss man sagen, dass Red Bull, Ferrari, McLaren und wir im Meeting sehr darum bemüht waren, eine Lösung zu finden, die gut für die Formel 1 ist", gibt Brawn weiter zu Protokoll. "Einige Teams hatten zum ersten Mal von dem Vorschlag gehört und sie erbaten sich etwas mehr Bedenkzeit. Ich hoffe, dass wir eine Lösung finden, denn wir wollen diese Sache endgültig aus der Welt schaffen und wieder Rennen fahren. Ich weiß wirklich nicht, wie es ausgehen wird, aber ich hoffe auf eine Lösung."
Dass die FIA überhaupt mit dem Zwischengas-Verbot angefangen hat, verstehen indes viele noch nicht: "Wir reden hier eindeutig von signifikanten Auswirkungen", sagt Rob White von Renault. "Niemand hat aus diesen Vorteilen einen Hehl gemacht, bevor der aktuelle Sturm aufgezogen ist. Jeder in der Boxengasse hat gewusst, dass die Auspuffentwicklung dieses Jahr ein großes Thema ist. Dafür die Energie der Auspuffgase zu nutzen, passiert schon seit sehr langer Zeit. Viele wundern sich darüber, dass das jetzt so abrupt beendet wird."

Wichtig: Wie geht es weiter?

Nun wünschen sich viele, dass das Thema heute beigelegt werden kann: "Wir wissen zu jedem Zeitpunkt, was die aktuelle Position ist, aber wir wissen nicht unbedingt, wie die zukünftige Position sein wird, ob die sehr kurzfristig oder doch eher langfristig angelegt ist", seufzt White angesichts der instabilen Regelsituation und grinst: "Aber ich würde meinen - angesichts der Präzisierung, dass es zwischen Qualifying und Rennen keine Änderung mehr geben darf -, dass wir im Rennen mit dem Mapping fahren werden, mit dem wir uns qualifiziert haben!"

Generell schafft es kaum jemand, das Thema auch für Laien verständlich zu erklären. "Es sind Kleinigkeiten, die ich und meine Ingenieure sehr aufregend finden, eure Leser aber wahrscheinlich weniger, die in diesem Sport, in dem sich alles innerhalb eines Prozents abspielt, den Unterschied machen. Das sind marginale Unterschiede", weiß Martin Whitmarsh - und ärgert sich darüber, dass die FIA plötzlich einen Bereich mit Restriktionen übersät hat, in dessen Erforschung einige Teams viel Geld investiert haben.

"Bis Valencia", erklärt der FOTA-Vorsitzende, "hatten wir sozusagen eine freie Marktwirtschaft, also haben die Teams ihre Motoren dafür entwickelt, ihre Auspuffsysteme, die fundamentale Aerodynamik des Autos und das Handling darauf abgestimmt. Alles, was wir getan haben, hat im guten Glauben darauf basiert - und vor 18, zwölf oder sechs Monaten hat sich niemand darüber beschwert. In der Formel 1 setzt sich der Eigennutz unweigerlich manchmal durch, aber solange wir den Schritt zurück nicht gehen, wird es eine Saison voller Paranoia."

Ausserdem erspare eine Rückkehr zum Stand Valencia den Teams eine Menge überflüssigen Aufwand: "Wenn du dieses Wochenende durch die Boxengasse gehst, siehst du, wie alle die Bremsen wechseln, die Bremskühlung, die Bremsmechanismen, das Aeropaket. Das zeigt, dass man die Elektronik nicht einfach anpassen und normal weitermachen kann, was man vielleicht annehmen würde, denn das Auto verhält sich dadurch ganz anders. All diese Dinge hängen letztendlich zusammen", schildert Whitmarsh.

10.7.2011