Vettel und der Aberglaube

Vettel und sein berühmter rechter Zeigefinger:

«Bei meinem ersten Sieg kam er spontan!»

Vettel interessiert sich für alles – und wenn er zu einer Frage keine Antwort findet, dann lässt ihn das Problem nicht mehr los. Auf und auch neben der Rennstrecke. Und sei es nur ein schwieriges Sudoku-Rätsel.

«Wenn ich es als Rennfahrer nicht geschafft hätte, würde ich jetzt eben Maschinenbau studieren und dann als Ingenieur arbeiten», sagt der Red Bull-Star mit einem tollen Jahreslohn von rund 20 Millionen Franken. Sebastian Vettel, mit drei Jahren schon im Kart (wie einst Ayrton Senna), hat Talent. Das entdeckte sein Vater Norbert früh. Aber das Geld ist knapp – und so holt man sich eben aus den Mülltonnen die Reifen, die andere schon weggeworfen haben. Hotels kennt man kaum – und noch heute logiert Sebastian bei den Europa-Rennen am liebsten im Wohnmobil.

Die Frauennamen der Autos wechseln

Der blonde Junge aus dem hessischen Heppenheim ist auch nach 75 Formel-1-Rennen auf dem Boden geblieben. 31 Mal stand er auf dem Podest, 18 Mal als Sieger mit dem berühmten rechten Zeigefinger. «Geschmacksache, aber er kam bei meinem ersten Sieg 2008 in Monza spontan. Und so ist er geblieben.» Gewechselt haben nur die Frauennamen seiner Autos. «Wenn eine lieb zu mir ist, dann behalte ich sie eben länger ...» Wie 2011 die Kinky Kylie! Die geile Lady schenkte ihm schon acht Siege. Was macht diesen Vettel so stark? Er ist konsequent, kompromisslos, ehrgeizig, aber immer mit Humor und Witz gepaart. Eine Ausnahme! In seinem neuen Heim in Ellighausen TG hängt ein Blatt Papier, auf dem Vettel einen Spruch notiert hat, den er von Rad-Legende Lance Armstrong übernahm: «Für jeden meiner Siege bezahlte ich mit Gallonen von Schweiss!»

Vettel selbst ist auch für Sprüche bekannt. Der erste ist seine Antwort auf Schlagzeilen wie «Baby-Schumi». Da sieht der fahrende Bulle wirklich rot: «Ich bin nicht der zweite Schumi, ich bin der erste Vettel!» Und sein zweiter Spruch zeigt, wie Vettel tickt: «Es ist nicht so wichtig, wenn andere denken, du bist der Beste. Es zählt nur, wenn du mit dir selbst zufrieden bist!»

Der Aberglaube fährt mit

Und diese Losgelöstheit ist auch mit viel Aberglaube verbunden. Wer wendet schon seinen Privatwagen auf der Strasse, wenn dort eine schwarze Katze seinen Weg kreuzt? Welcher Fahrer wechselte 2011 bei jedem GP das Design seines Helmes? Zudem fährt irgendwo in seinem Rennauto ein Maskottchen mit – und sei es nur eine Münze im Schuh! Sebastian Vettel hat alles im Griff, aber er ist nicht zu packen! Ein Star wider Willen, den selbst die härtesten Gegner loben. Auch Teamkollege Mark Webber (35) hat es aufgegeben, am Image des Deutschen zu kratzen. Bei Red Bull sind die Rollen verteilt. Der uneingeschränkte Leader heisst Vettel, ein Akrobat auf dem dünnen Eis zwischen Egoist und Teamplayer.

Ja, wenn es nächste Woche Nacht wird in Singapur! Dann kann Vettel schon Weltmeister werden. Die Mathematik lässt kaum noch andere Varianten zu. Es fehlen ihm 39 Punkte, wenn Alonso noch sechsmal gewinnen würde. Nun, in Singapur hiess der Sieger in drei Rennen zweimal Alonso. Aber vergessen Sie alle Titel-Theorien! Nur der schnellste Champion kann der jüngste Pole-Mann, Punktesammler, GP-Sieger und Weltmeister nicht mehr werden. Diese Ehre gehört Schumi. 2002 wurde er in Magny-Cours nach nur 11 von 17 WM-Rennen auf Ferrari gekrönt.

Vettel, der am liebsten Wiener Schnitzel mit Pommes und Apfelschorle hat, interessieren auf dem Asphalt nur die Siege – und als Langzeit-Ziel «vielleicht ein Ferrari-Cockpit. Aber wer weiss, ob ich mir diesen herrlichen Sport mit 30 Jahren noch antun werde!» Der Mann ohne Skandale lief ja selbst mal in einem Nachtlokal davon, als «die Sexshow zwischen zwei Frauen zu hart wurde!»

In festen Händen

Für die Liebe sorgt bei Vettel Freundin Hanna, die er seit der Schule kennt und wie einen Schatz behütet. Als er mit ihr im Juni nach Montreal flog, sagte er mir auf 11'000 Metern Höhe: «Wenn du nichts schreibst, dann haben wir in Kanada ein friedliches Wochenende!» Und so war ihm dieses Geheimnis gegönnt. Es war übrigens jenes Chaos-Rennen, bei dem Vettel in der letzten Runde einen seiner wenigen Fehler machte. Er kostete ihn den Sieg.

Heimat? «Das ist da, wo ich lebe. Also bin ich jetzt auch ans Kreuzlinger Strassenfest gegangen. Und ich werde sicher nicht ins nahe Deutschland fahren, um billiger einzukaufen.»

18.9.2011