Formel1-Reifen im Windkanal

Die Erkenntnisse aus dem Winkanal sind für

die Reifenentwicklung entscheidend

Schon seit geraumer Zeit werden Formel-1-Fahrzeuge im Windkanal zu Höchstleistungen getrimmt, zumal die Entwicklung auf aerodynamischer Seite niemals stillsteht. Aufgrund des immer geringeren Spielraums für die Ingenieure ist die Auswertung dieser Daten aktuell wichtiger denn je, doch seit rund einem Jahrzehnt ist eine neue Variable mit im Spiel: Die Rennställe testen ihre Autos mit Modellreifen.

Bis zum Ende der 1990er-Jahre kamen zu diesem Zweck Reifendummys aus Metall oder Kohlefaser zum Einsatz, seit einigen Saisons setzen die Formel-1-Lieferanten allerdings auf Gummiprodukte, die ihren Pendants auf der Rennstrecke verblüffend ähnlich sehen. Das ist aber auch schon alles, denn bei den Modellpneus für den Windkanal ist eine ganz andere Design-Herangehensweise gefragt.

Die grösste Herausforderung für Pirelli?

Der Grund: Die intern "Mk IV" genannten Minireifen werden in den Maßstäben 50 und 60 Prozent und eigens für den Einsatz im Windkanal hergestellt. Und dort spielen diese Spezialpneus eine wichtige Rolle, da die freistehenden Räder eines Formel-1-Autos großen Einfluss auf die aerodynamische Gesamtleistung haben. Für die Teams können diese Modellreifen also gar nicht detailliert genug sein. Paul Hembery, Motorsport-Direktor bei Pirelli, hält diese Miniaturausgaben sogar für "das wahre Geheimnis der Formel 1" und merkt an, dass diese Sonderreifen "mit am schwierigsten herzustellen sind". Das Entwerfen und Konstruieren der Modellpneus sei "ein kleiner, aber für die Teams ganz fundamentaler Geschäftsbereich" des italienischen Unternehmens, hält der Brite erklärend fest. Warum, liegt laut Hembery auf der Hand: "Diese Reifen sind anders als die Pneus, die auf der Straße im Einsatz sind. Deshalb stellt diese Sache eine grosse Lernkurve für uns dar, weil wir bislang niemals ein derartiges Produkt entwerfen mussten. Die früheren Lieferanten der Formel 1 investierten viel Zeit darin, ihre Modellreifen zu perfektionieren." Bei Pirelli war dies in den 1990er-Jahren kein Thema.

Der knifflige Weg zurück in die Zukunft

Als sich das Unternehmen zwischenzeitlich aus der Formel 1 verabschiedete, waren die Reifen im Windkanal noch längst nicht aus Gummi, nun können diese Spezialreifen der Wirklichkeit gar nicht nahe genug kommen. Weil Pirelli anfangs entsprechend Erfahrungs-Rückstand auf diesem Gebiet hatte, war es Anfangs allerdings schwierig, die gewünschten Effekte im Windkanal zu erzielen. Williams macht heute keinen Hehl daraus, dass man zunächst nicht auf die Modellpneus der Italiener setzte, sondern das Fahrzeug weiterhin mit Bridgestone-Spezialpneus aus Japan ausstattete, um verlässliche Daten zu sammeln. Pirelli gesteht rückblickend durchaus ein, gewisse Defizite gehabt zu haben, doch diese seien nun ausgemerzt. Es brauche einfach Zeit, um eine gute Lösung zu finden. "Es ist ein komplexes Paket", sagt Hembery. "Wichtig ist in diesem Zusammenhang, die Form der Modellreifen präzise nachzubilden, damit es im richtigen Druckzustand das Fahren imitieren kann." Damit sind die Gemeinsamkeiten der Rennreifen und Modellpneus schon erschöpft: "Sie haben nur die Form gemeinsam", bestätigt Hembery. "Die Struktur, die Materialien - einfach alles ist anders."

Reifen sind ein Teil der Auto-Aerodynamik

Reifen für den Windkanal, von denen pro Jahr ungefähr 1.000 Stück angefertigt werden, würden beim Einsatz auf der Strasse "schlichtweg nicht funktionieren", meint Hembery und erläutert: "Der Verschleiss wäre unheimlich gross und der Pneu würde sich auf ganz anders verhalten als ein normaler Reifen." Auch, weil diese Spezialreifen im Testbetrieb mit sehr wenig Druck zu an den Start gebracht werden. Bis es aber so weit ist, dass die Pirelli-Zusatzprodukte in den Windkanal können, ist schon viel Zeit für die Forschung und Entwicklung ins Land gegangen. "Die erste grosse Herausforderung ist, das aerodynamische Profil so zu gestalten, wie es auch in Originalgrösse ist. Das Modell muss den Rennreifen nachahmen", sagt der Motorsport-Direktor des aktuellen Formel-1-Reifenlieferanten. "Im zweiten Schritt, und daran arbeiten wir noch, geht es darum, den 'Fußabdruck' der Modellreifen an das Original anzugleichen." Kein einfaches Unterfangen, denn Rennreifen sind stets großen Kräften ausgesetzt, die es freilich auch beim Testen zu simulieren gilt. Auch an dieser Baustelle arbeitet Pirelli mit Nachdruck. "Unser Entwicklungsteam besteht aus vielen Fachleuten", gibt Hembery zu Protokoll.

Pirelli mit Sonderbereich für Spezialpneus

Diese Mannschaft suche ständig nach Möglichkeiten, die Entwicklungsarbeit zu optimieren und den Teams das Testen zu erleichtern. "Viele dieser Angestellten arbeiten speziell am Formel-1-Produkt", meint der Brite. "Für sie geht es darum, Methoden zu entwerfen, um das Verhalten der Reifen in einer Rennsituation nachzuahmen." Ein "statischer" Windkanal-Test ist nämlich bereits nicht mehr sehr "in". Heutzutage werden die Rennwagen-Modelle in 50- oder 60-Prozent-Größe des Originals nämlich nicht einfach nur in die Luft gestellt, sondern in imitierte Fahrsituationen versetzt. Die Windkanäle verfügen zum Teil über bewegliche Bänder, um die Fahrt auf einer Strecke zu simulieren. Mit bis zu 50 Metern pro Sekunde dürfen die Rennställe ihre Prototypen über diese "Bahn" jagen, um Daten abzugreifen. Was dabei genau geschieht, ist nicht einmal Hembery ganz klar. Der Pirelli-Motorsport-Direktor gesteht: "Wir wissen nicht in allen Einzelheiten, was die Teams im Windkanal veranstalten. Das ist eine ziemliche Geheimsache." Offenbar experimentiert man in der Formel 1 auch mit verschiedenen Lenkrad-Einstellungen, um so die unterschiedlichen Autozustände auf der Strecke auszuprobieren.

Simulierte Kurvenfahrten im Windkanal?

Hembery: "Sie arbeiten sicher an der Lenkung, aber wir glauben nicht, dass sie sich bereits mit Kurvenfahrten beschäftigen. Das ist also noch kein Teil der Gleichung. Vielleicht ist das ein Thema für die Zukunft." In diesem Zusammenhang wäre Pirelli und das Entwicklerteam erneut gefragt: "Wir müssten dafür einen Modellreifen entwerfen, der die Kurveneigenschaften der Rennpneus nachahmt. Die Teams würden es lieben", meint Hembery. "Am einfachsten wäre es in diesem Zusammenhang, einen Windkanal in Originalgrösse zu haben." Danach sieht es derzeit aber nicht aus, weshalb hinter den Kulissen sicher bereits an entsprechenden Lösungen gearbeitet wird. Schon jetzt gelten die Miniaturreifen von Pirelli aber als "eigentlich unbezahlbar" -. Windkanal-Pneus sind etwas Spezielles. Gerade dies entspricht aber den Wünschen der Teams, wie Sam Michael, Technischer Direktor bei Williams, betont. "Den Luftfluss zu kennen, ist ein wichtiger Faktor, wenn die mit CFD entworfenen Prototypen im Windkanal stehen. Wir versuchen daher, die Reifen detailgetreu nachzubilden. Im Windkanal werden die Pneus dann ständig verformt, um den Reifen in Kurvenfahrt zu simulieren."

Neue Entwicklungswege sind gefragt

"Uns geht es nicht mehr so sehr um Abtrieb auf den Geraden, denn die Dinge haben sich dramatisch weiterentwickelt. Jetzt ist die Kurvenfahrt das grosse Thema", meint der Australier. Pirelli und die Teams stossen also in eine ganz neue Dimension vor - aber immer unter der Voraussetzung, dass alle Beteiligten die gleichen Chancen haben. Die Modellpneus müssen jedem Rennstall zusagen. Gleichzeitig sollten die Windkanal-Reifen "sehr vielfältig sein", wie Sauber-Technikchef James Key hinzufügt. "Du willst schliesslich unterschiedliche Bedingungen ausprobieren und bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten testen. Das bringt viel Lernaufwand mit sich, denn es ist nicht einfach nur ein Reifen, sondern eine Laborausrüstung." Pirelli schlage sich bei dieser Aufgabe aber "nicht schlecht".

"Es ist eine Frage der Herangehensweise", sagt Key. "Der Modellreifen muss insofern vielseitig sein, dass weder seine Lauffläche noch das Band des Windkanals verschleißt." Wird das Produkt eben diesen Anforderungen nicht gerecht, steigen die Kosten ins Unermessliche - in Zeiten von Ressourcen-Restriktions-Abkommen und schlanker Budgets sicherlich kein gewünschter Nebeneffekt.

Ein schwieriger Auftakt für die Windkanal-Reifen

Toro Rosso machte dabei schlechte Erfahrungen. "Zu Beginn unserer Entwicklung hielt unser Band im Windkanal nur zwei Wochen, üblicherweise können wir dieses Element sonst ein halbes Jahr lang verwenden", erklärt Giorgio Ascanelli. Bei Stückkosten von über 100.000 Euro für dieses Element kein Pappenstil, also drängen die Teams auf gute Modellreifen. Auch, weil sonst die Resultate verfälschen. Gibt es im Gesamtgefüge im Windkanal aufgrund der Pneus Vibrationen, dann setzten die Teams dadurch die Präzision ihrer aerodynamischen Messungen aufs Spiel, wie Ascanelli betont. Key hat aber Verständnis für die Situation von Pirelli: Aufgrund der Umstände der jeweiligen Rennställe ist es gewiss schwierig, einen Reifen für den Windkanal zu testen. Wir sahen aber Verbesserungen."

"Noch sind wir nicht bei einhundert Prozent, doch im Vergleich zum Anfang sind die Fortschritte riesig", lobt der Technische Direktor des Sauber-Teams. Ascanelli, Keys Pendant bei Toro Rosso, stimmt zu: "Wir hatten einen sehr schwierigen Start, doch jetzt geht es besser und besser. Die ersten Windkanal-Reifen konnten wir kaum nutzen, jetzt verbessert sich die Daten-Korrelation immer mehr."

7.9.2011